
1994 veröffentlichte Henry Kissinger das Buch Diplomatie. Er war ein renommierter Gelehrter und Diplomat, der als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister der Vereinigten Staaten diente. Sein Buch bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Außenpolitik und die Kunst der Diplomatie, mit besonderem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert und der westlichen Welt. Kissinger, bekannt für seine Zugehörigkeit zur realistischen Schule der internationalen Beziehungen, untersucht die Konzepte des Gleichgewichts der Mächte, der Staatsräson und der Realpolitik in verschiedenen Epochen.
Sein Werk wurde weithin für seinen Umfang und seine Detailgenauigkeit gelobt. Es wurde jedoch auch kritisiert, weil es sich eher auf Einzelpersonen als auf strukturelle Kräfte konzentriert und eine reduktionistische Sicht der Geschichte darstellt. Kritiker haben auch darauf hingewiesen, dass das Buch sich übermäßig auf Kissingers individuelle Rolle bei Ereignissen konzentriert und möglicherweise seinen Einfluss überbewertet. In jedem Fall sind seine Ideen eine Überlegung wert.
Dieser Artikel präsentiert eine Zusammenfassung von Kissingers Ideen im vierten Kapitel seines Buches mit dem Titel „Das Konzert der Mächte: Großbritannien, Österreich und Russland“.
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Während Napoleons erstem Exil auf Elba trafen sich die Sieger der Napoleonischen Kriege im September 1814 auf dem Wiener Kongress. Dieser Kongress zielte darauf ab, eine neue internationale Ordnung zu schaffen, eine Aufgabe, die mit Napoleons Flucht von Elba und seiner endgültigen Niederlage bei Waterloo noch dringlicher wurde. Zu den Hauptverhandlungsführern gehörten Fürst von Metternich aus Österreich, Fürst von Hardenberg aus Preußen, Talleyrand aus Frankreich, der den restaurierten Ludwig XVIII. vertrat, Zar Alexander I. aus Russland und Lord Castlereagh aus England.
Die Bemühungen dieser Diplomaten führten zu einer bemerkenswerten Friedensperiode in Europa, in der es über ein Jahrhundert lang keine größeren Konflikte zwischen den Großmächten gab. Der Erfolg des Wiener Kongresses wurde darauf zurückgeführt, dass er ein Gleichgewicht der Mächte schuf, das auf gemeinsamen Werten und moralischem Gleichgewicht beruhte und nicht nur auf Gewalt. Man glaubte, diese einzigartige Situation sei so gut konstruiert, dass sie jeden Versuch, sie zu stören, entmutigte. Die zugrunde liegende Überzeugung war, dass ein Gefühl der Gerechtigkeit und gemeinsame Werte zwischen den Nationen die Wahrscheinlichkeit von Konflikten verringern, was die Bedeutung kompatibler innenpolitischer Institutionen für die Aufrechterhaltung des Friedens unterstreicht.
Hinsichtlich der territorialen Anpassungen folgte die Wiener Regelung weitgehend dem Pitt-Plan. Österreich und Preußen wurden jeweils in Italien und Deutschland gestärkt. Die Niederländische Republik erhielt die Österreichischen Niederlande, Frankreich wurde auf seine Grenzen vor der Revolution zurückgeführt und Russland erhielt Polen. Großbritannien, das an seiner Politik der begrenzten kontinentalen Expansion festhielt, beschränkte seine Gewinne auf das Kap der Guten Hoffnung.
Das Konzept des Mächtegleichgewichts war integraler Bestandteil der britischen Vision einer Weltordnung. Nationen sehen sich jedoch typischerweise nicht nur als Teile eines Sicherheitssystems; sie haben ihre eigenen Bestrebungen und Rollen. Österreich und Preußen beispielsweise hatten komplexe Beziehungen und historische Rollen, die innerhalb des gesamten Mächtegleichgewichts anerkannt werden mussten.
Österreich, das im Dreißigjährigen Krieg daran gescheitert war, Deutschland zu beherrschen, versuchte, seine führende Rolle in der Region zu behaupten, insbesondere gegenüber Preußen, das sich zu einer gewaltigen Militärmacht entwickelt hatte. Die Beziehung zwischen Österreich und Preußen sowie ihre Beziehungen zu anderen deutschen Staaten waren entscheidend für die europäische Stabilität. Deutschlands historisches Dilemma bestand darin, dass es entweder zu schwach war und ausländische Interventionen einlud, oder zu stark war und Angst unter seinen Nachbarn schürte.
Der Wiener Kongress versuchte, ein stabiles Mitteleuropa zu schaffen, indem er Deutschland konsolidierte, aber nicht vereinigte. Der Deutsche Bund wurde gegründet, der Preußens militärische Stärke gegen Österreichs Prestige ausbalancierte. Diese Struktur verhinderte sowohl französische Aggression als auch eine übermächtige deutsche Einheit.
Bei den Friedensregelungen unterschied sich der Ansatz in Wien deutlich von dem des Versailler Vertrags. Die Sieger in Wien, die die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen Sieg und Versöhnung verstanden, behandelten Frankreich mit einer gewissen Großzügigkeit. Frankreich wurde auf seine vorrevolutionären Grenzen reduziert, aber nicht übermäßig bestraft. Dieser Ansatz half, den Groll zu vermeiden, der später den Versailler Vertrag belasten sollte.
Großbritannien, das an das natürliche Eigeninteresse der Nationen zur Verteidigung glaubte, sah keine Notwendigkeit für formelle Garantien. Die mitteleuropäischen Länder jedoch, müde von Jahrhunderten des Konflikts, suchten nach konkreteren Zusicherungen. Insbesondere Österreich, ein vielfältiges Reich, versuchte, einen Rahmen moralischer Zurückhaltung zu schaffen, um die aufkommenden Kräfte des Liberalismus und Nationalismus abzumildern. Der Schlüssel zur Friedenssicherung wurde in der Fähigkeit der großen Staaten gesehen, ihre Streitigkeiten innerhalb eines Rahmens gemeinsamer Werte und Zurückhaltung beizulegen.
Nach dem Wiener Kongress gründeten die europäischen Mächte zwei bedeutende Bündnisse: die Quadrupelallianz und die Heilige Allianz. Die Quadrupelallianz, bestehend aus Großbritannien, Preußen, Österreich und Russland, wurde hauptsächlich gebildet, um ein Wiederaufleben französischer Aggression zu verhindern, ähnlich einem modernen Abschreckungsmechanismus. Die Heilige Allianz hingegen, zu der Preußen, Österreich und Russland gehörten, war ein neuartiges Konzept, das vom russischen Zaren vorgeschlagen wurde. Anders als jedes frühere Bündnis zielte sie darauf ab, die internationalen Beziehungen auf der Grundlage religiöser Werte und konservativer Prinzipien zu reformieren, wobei der Schwerpunkt auf der Aufrechterhaltung des Status quo und der legitimen Herrschaft in Europa lag.
Die Heilige Allianz stieß in Großbritannien auf Skepsis, dessen außenpolitische Prinzipien sich gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten wandten. Trotz ihrer scheinbar hehren Ideale diente die Allianz effektiv als Mechanismus für konservative Monarchen, um gemeinsam revolutionären Bewegungen entgegenzuwirken, während sie gleichzeitig unilaterale Aktionen einer einzelnen Macht begrenzte.
Diese Periode markierte einen Wandel in den internationalen Beziehungen, in denen moralische Zurückhaltung und ein begründetes Interesse an innerstaatlicher Stabilität begannen, das Verhalten der Großmächte zu beeinflussen. Im Gegensatz zum achtzehnten Jahrhundert, in dem kompatible Monarchien von Gottesgnadentum immer noch häufige Konflikte führten, legte die Zeit nach Wien größeren Wert auf die Bewahrung der etablierten Ordnung und Legitimität.
Metternich, Österreichs Schlüsseldipomat, spielte eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung dieser neuen internationalen Ordnung. Er vertrat die Idee, dass legitime Herrschaft gleichbedeutend mit Frieden sei, im krassen Gegensatz zur Wilson’schen Überzeugung, dass Demokratien von Natur aus friedliebend seien. Metternichs Erfahrung mit der Französischen Revolution prägte seine Ansicht, dass etablierte Rechte und Gesetze inhärent seien und nicht der legislativen Schaffung unterlägen. Diese Überzeugung war ein Eckpfeiler für die Aufrechterhaltung der Stabilität des österreichischen Kaiserreichs, trotz aufkommender liberaler und nationalistischer Tendenzen, die seine traditionelle Struktur bedrohten.
Metternichs diplomatische Strategie bestand darin, die Interessen und geopolitischen Ambitionen von Österreichs Verbündeten, Preußen und Russland, gegen die revolutionären Bedrohungen der Epoche auszubalancieren. Er überzeugte sie erfolgreich davon, dem Status quo Vorrang vor potenziellen territorialen Gewinnen zu geben, wodurch Österreichs Einfluss in Europa verlängert wurde.
Metternichs diplomatischer Ansatz war von Pragmatismus und dem Fokus auf die Aufrechterhaltung eines Mächtegleichgewichts durch Mäßigung und Kooperation geprägt. Seine Voraussicht bei der Identifizierung potenzieller Bedrohungen und sein Engagement für ein stabiles Mitteleuropa waren entscheidend für die Aufrechterhaltung der europäischen Stabilität in einer Zeit bedeutender Veränderungen und Herausforderungen. Dieser Ansatz stand in scharfem Kontrast zu den idealistischeren und interventionistischeren Politiken späterer demokratischer Staaten.
Österreich, das Russland als Gegengewicht zu Frankreich benötigte, war vorsichtig gegenüber seinem unberechenbaren Verbündeten, Zar Alexander I. Talleyrand und Metternich sahen Alexander als komplexen Charakter, angetrieben von einer Mischung aus Ehrgeiz und Eitelkeit. Für Metternich bestand die Herausforderung mit Russland nicht darin, seine Aggression einzudämmen, sondern seine Ambitionen zu mäßigen. Alexander wurde als friedensliebend angesehen, aber zu Bedingungen, die seine persönliche Dominanz und seinen Einfluss geltend machen würden.
Metternich und der Brite Castlereagh unterschieden sich in ihren Ansätzen zur Handhabung Russlands. Castlereagh, der eine ferne Inselnation vertrat, neigte dazu, nur direkten Bedrohungen zu widerstehen, die das Mächtegleichgewicht störten. Metternich jedoch, im Herzen Europas, konnte sich ein solches Risiko nicht leisten und versuchte, potenzielle Bedrohungen durch Russland präventiv zu managen. Er glaubte, dass selbst ein kleiner Konflikt Russlands Ambitionen entfesseln könnte, also konzentrierte er sich darauf, enge Beziehungen zu Alexander zu pflegen, um solche Szenarien zu verhindern.
Metternichs Strategie hatte zwei Hauptaspekte: den Nationalismus zu bekämpfen, ohne Österreich übermäßig zu exponieren, und unilaterale Aktionen zu vermeiden, insbesondere aus Sorge vor Russlands möglichen expansionistischen Tendenzen. Er glaubte an eine Philosophie der Mäßigung und des Pragmatismus, die darauf abzielte, die Ansprüche anderer zu reduzieren, anstatt Österreichs eigene aggressiv durchzusetzen. Metternich versuchte auch, Russland in zeitaufwändige Konsultationen einzubeziehen, um seinen Eifer zu dämpfen.
Der zweite Aspekt von Metternichs Ansatz war die Förderung der konservativen Einheit unter den europäischen Mächten. Er balancierte geschickt die Interessen Österreichs, Russlands und Großbritanniens aus und nutzte ihre konservative Ausrichtung, um das Tempo der Ereignisse zu kontrollieren und drastische Veränderungen im Mächtegleichgewicht zu verhindern. Dieses Gleichgewicht war jedoch schwer aufrechtzuerhalten, als die Zeit verging und die Erinnerung an die Bedrohung durch Napoleon verblasste.
Als Großbritannien immer zurückhaltender wurde, sich in europäische Angelegenheiten einzumischen, wurde Österreich zunehmend von Russland abhängig, was konservative Werte weiter verankerte. Diese Abhängigkeit schuf einen Kreislauf, in dem Österreichs Abhängigkeit von Russland stärker wurde, was zu einer rigideren Verteidigung konservativer Prinzipien führte.
Castlereagh, der Österreichs Herausforderungen verstand, schlug regelmäßige Kongresse zur Überprüfung europäischer Angelegenheiten vor. Großbritannien war jedoch mit dem Konzept einer europäischen Regierung unbehaglich, ähnlich wie spätere amerikanische Vorbehalte gegenüber dem Völkerbund. Diese britische Zurückhaltung zeigte sich in den frühen Kongressen, wo die britische Teilnahme begrenzt war und sich hauptsächlich auf die Eindämmung Frankreichs konzentrierte.
Das einzige Mal, dass Großbritannien eine solche Diplomatie mit seinen Interessen in Einklang fand, war während der Griechischen Revolution von 1821, als Russlands Aktionen im Osmanischen Reich britische strategische Interessen bedrohten. Aber selbst in diesem Kontext war Großbritanniens Engagement begrenzt und vorsichtig.
Der Versuch von Castlereagh, Großbritannien in ein System europäischer Kongresse einzubeziehen, scheiterte letztendlich, was Woodrow Wilsons späteren Herausforderungen mit dem Völkerbund ähnelte. Beide Führer erkannten die Notwendigkeit, dass ihre mächtigen Nationen aktiv an internationalen Angelegenheiten teilnehmen müssen, um zukünftige Krisen zu verhindern. Jedoch beschränkten innenpolitische Zwänge und historische Traditionen sowohl in Großbritannien als auch in den Vereinigten Staaten ihre Beteiligung an diesen internationalen Systemen.
Castlereagh und Wilson teilten die Überzeugung, dass die nach großen Kriegen etablierte internationale Ordnung eine aktive Beteiligung der Schlüsselstaaten erforderte. Sie betrachteten Sicherheit als kollektive Verantwortung, mit dem Verständnis, dass Aggression gegen eine Nation letztendlich alle betrifft. Trotz ihrer Bemühungen behinderten innenpolitische Gegebenheiten und langjährige nationale Traditionen die vollständige Verwirklichung ihrer Visionen von kollektiver Sicherheit und internationaler Zusammenarbeit.
Das Konzept der kollektiven Sicherheit wird durch die Vielfalt nationaler Interessen und die Komplexität von Sicherheitsfragen herausgefordert. Mitglieder eines solchen Systems finden es oft einfacher, sich auf Untätigkeit als auf koordiniertes Handeln zu einigen. Dies zeigte sich in der Zurückhaltung sowohl der Vereinigten Staaten als auch Großbritanniens, sich vollständig zu Systemen kollektiver Sicherheit wie dem Völkerbund und dem europäischen Kongresssystem zu bekennen. In diesen Ländern führte das wahrgenommene Fehlen unmittelbarer Bedrohungen und der Glaube an ihre Fähigkeit, allein zurechtzukommen oder in Notzeiten Verbündete zu finden, zu einer Zögerlichkeit, sich an diesen internationalen Systemen zu beteiligen.
Castlereagh und Wilson standen vor Herausforderungen bei der Integration ihrer Nationen in kollektive Sicherheitsrahmen. Während Wilsons Ideen mit amerikanischen Werten übereinstimmten und die zukünftige US-Außenpolitik beeinflussten, standen Castlereaghs Ansichten nicht im Einklang mit den britischen außenpolitischen Traditionen und hinterließen keinen bleibenden Einfluss.
Lord Stewart, Castlereaghs Halbbruder und britischer Beobachter bei den europäischen Kongressen, konzentrierte sich mehr darauf, die Grenzen des britischen Engagements zu definieren, als einen europäischen Konsens aufzubauen. Castlereagh selbst betonte, dass die Quadrupelallianz nicht dazu gedacht war, die Welt zu regieren oder die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zu überwachen. Letztendlich fand Castlereagh, gefangen zwischen seinen Überzeugungen und den innenpolitischen Realitäten, keine Lösung für dieses Dilemma, was tragischerweise im Selbstmord endete.
Als Österreich immer abhängiger von Russland wurde, stand Metternich vor der Herausforderung, russische Ambitionen mit der Notwendigkeit, den europäischen Konsens aufrechtzuerhalten, in Einklang zu bringen. Es gelang ihm, dieses Gleichgewicht fast drei Jahrzehnte lang zu halten, indem er Revolutionen in ganz Europa bewältigte und gleichzeitig eine russische Intervention auf dem Balkan verhinderte. Die Orientalische Frage jedoch, die hauptsächlich die Unabhängigkeitskämpfe der Balkanstaaten von der türkischen Herrschaft betraf, stellte eine erhebliche Herausforderung für Metternichs System dar.
Der Krimkrieg, ausgelöst durch Frankreichs Herausforderung der traditionellen Rolle Russlands als Beschützer der Christen im Osmanischen Reich, markierte einen Wendepunkt. Die tieferen Ursachen des Krieges waren eher geopolitische Ambitionen als religiöse Ansprüche. Österreich, das versuchte, sein empfindliches Bündnisgleichgewicht aufrechtzuerhalten, erklärte zunächst Neutralität, drängte Russland aber später zum Rückzug aus Moldawien und der Walachei, was zum Ende des Krieges beitrug.
Österreichs Entscheidung, sich während des Krimkriegs mit Napoleon III. und Großbritannien zu verbünden, schwächte sein langjähriges Bündnis mit Russland und führte zur Auflösung der konservativen Einheit, die für die Aufrechterhaltung der Wiener Ordnung entscheidend gewesen war. Dieser Wandel hin zur Machtpolitik, weg von der konservativen Einheit, die Konfrontationen gemildert hatte, führte zu verschärften nationalen Rivalitäten und erhöhten Risiken für alle Beteiligten, insbesondere für Österreich.
Großbritannien hingegen passte sich gut an das neue, von Machtpolitik getriebene internationale System an. Britische Führer, die eine Politik der „splendid isolation“ verfolgten, konzentrierten sich darauf, die Handlungsfreiheit ihres Landes zu wahren und Verstrickungen in europäische Bündnisse zu vermeiden. Dieser Ansatz war aufgrund der Stärke Großbritanniens, seiner geografischen Isolation und seiner Unabhängigkeit von kontinentalen Bündnissen möglich. Die britische Außenpolitik war durch einen pragmatischen Fokus auf nationale Interessen gekennzeichnet, wobei Führer wie Palmerston und Canning einen vorsichtigen Ansatz bei internationalen Verpflichtungen und Interventionen betonten. Diese Haltung ermöglichte es Großbritannien, sein Gleichgewicht in Europa zu wahren und gleichzeitig die koloniale Expansion in Übersee zu verfolgen.
Die britische Außenpolitik erlaubte es Großbritannien, ein gewisses Maß an Unabhängigkeit in internationalen Angelegenheiten zu wahren, hinderte es aber nicht daran, temporäre Bündnisse zur Bewältigung spezifischer Situationen einzugehen. Als Seemacht ohne großes stehendes Heer benötigte Großbritannien manchmal kontinentale Verbündete. Britische Führer, pragmatisch und flexibel, legten oft vergangene Konflikte beiseite, um neue Bündnisse zu schmieden, wenn die Umstände es erforderten. Zum Beispiel drohte Palmerston während der Abspaltung Belgiens von Holland im Jahr 1830 Frankreich zunächst mit Krieg, schlug aber später ein Bündnis vor, um die Unabhängigkeit Belgiens zu sichern.
Dieser pragmatische Ansatz führte jedoch oft dazu, dass Großbritannien die Seiten wechselte oder neue Koalitionen bildete, um das Mächtegleichgewicht in Europa zu wahren, eine Strategie, die ihm den Spitznamen „Perfides Albion“ einbrachte. Trotz ihrer opportunistischen Natur erhielt diese Politik effektiv den Frieden in Europa aufrecht, insbesondere als das Metternich-System zu zerfallen begann.
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit britischer Dominanz, geprägt von industrieller Führerschaft, maritimer Überlegenheit und innerer politischer Stabilität. Die britische Außenpolitik war durch Pragmatismus und Flexibilität gekennzeichnet, wobei die Führer nicht bereit waren, sich durch starre Doktrinen einschränken zu lassen. Ob sie die griechische Unabhängigkeit unterstützten, in die Ungarische Revolution eingriffen oder während Italiens Aufstand gegen die Habsburgerherrschaft nicht intervenierten, Großbritanniens Handlungen wurden von der Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des Mächtegleichgewichts angetrieben, nicht von ideologischen Erwägungen.
Das Kernprinzip der britischen Außenpolitik war es, als Wächter des Mächtegleichgewichts zu agieren, oft die Schwächeren gegen die Stärkeren zu unterstützen. Dieses Prinzip war so tief in der britischen Diplomatie verwurzelt, dass es keiner expliziten Rechtfertigung bedurfte; es wurde einfach als der richtige Handlungsweg angenommen. Die britische Konsistenz in außenpolitischen Zielen, wie die Freihaltung der Niederlande von der Kontrolle durch Großmächte, war ein Beweis für dieses Engagement.
Großbritanniens Politik gegenüber Österreich entwickelte sich im Laufe der Zeit. Anfangs als wichtiges Gegengewicht zu Russland betrachtet, führte Österreichs Schwächung nach der Revolution von 1848 und seine erratische Politik dazu, dass Großbritannien es als weniger entscheidend ansah. Großbritanniens Fokus verlagerte sich darauf, die russische Kontrolle über die Dardanellen zu verhindern, was zu einer distanzierteren Haltung gegenüber Österreichs Niederlagen in Italien und Deutschland führte.
Die britische Außenpolitik erfuhr im frühen 20. Jahrhundert einen bedeutenden Wandel, als die Angst vor Deutschland zu dominieren begann, was zu Bündnissen führte, die in der Vergangenheit unwahrscheinlich erschienen wären, wie etwa mit Russland. Dieser Wandel spiegelte Großbritanniens Anpassungsfähigkeit und sein anhaltendes Engagement für nationale Interessen und die Aufrechterhaltung des Mächtegleichgewichts wider.
Die repräsentative Natur der britischen politischen Institutionen spielte eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung seiner Außenpolitik. Da die öffentliche Meinung und offene Debatten Entscheidungen beeinflussten, zeigte Großbritannien in Kriegszeiten oft Einigkeit, obwohl dies auch bedeutete, dass sich die Außenpolitik mit Wechseln in der politischen Führung ändern konnte. Trotz dieser Schwankungen blieb die britische Außenpolitik konsequent auf den Schutz nationaler Interessen und die Wahrung des Gleichgewichts in Europa ausgerichtet.
Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, die ihre demokratischen Institutionen als Modell für die Welt betrachteten, sah Großbritannien sein parlamentarisches System als einzigartig und für andere Gesellschaften irrelevant an. Die britische Politik war praktisch und eigennützig und zeigte nur dann Unterstützung für ausländische Revolutionen, wenn dies mit nationalen Interessen übereinstimmte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die britische Außenpolitik im 19. Jahrhundert durch einen Fokus auf nationale Interessen, einen pragmatischen Ansatz bei internationalen Bündnissen und ein Engagement für die Aufrechterhaltung des Mächtegleichgewichts in Europa gekennzeichnet war. Dieser Ansatz ermöglichte es Großbritannien, das 19. Jahrhundert mit nur einem Krieg gegen eine andere Weltmacht zu meistern: dem Krimkrieg. Auf diesen Konflikt folgten fünfzehn Jahre des Aufruhrs, bis ein neues europäisches Gleichgewicht entstand.
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